Prof. Dr. Christoph Stölzl
Präsident der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar
Die Aktualität von Franz Liszt
Drei Leitmotive erleben wir in unserer Zeit:
- Die Öffnung der Grenzen lässt am Horizont bereits die Entstehung eines Kontinentes der freien Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen erblicken, vom Mittelmeer bis zur Baltischen See, vom Atlantik bis in die Weiten des europäischen Ostens. All das spiegelt die Ideale Franz Liszts. Er hat es vorgelebt, vorgereist, das Leben eines mobilen Europäers jenseits nationaler Definitionen und Passzwänge.
- Die klassische Musik Europas macht heute eine produktive Krise durch: Sie ist „Weltmusik" geworden auf doppelte Weise. Sie hat die Welt erobert weit über die Grenzen ihrer Herkunftsländer hinaus. Aber sie steht auch im Wettbewerb mit der Musik der ganzen Welt. Und das zeitgenössische Komponieren muss bei seinem Publikum den Widerstreit aushalten zwischen der Nostalgie nach schönen Tönen hier und dem Hunger nach dem ganz Andern, ganz Neuen dort. Franz Liszt hat diesen Konflikt vorgelebt und vorgedacht. Und hat einen Weg ins 20. Jahrhundert gewiesen mit seinen Ideen zur schöpferischen Zerstörung der traditionellen musikalischen Formen und zur bewussten Zeitgenossenschaft des Musikers.
- Wir erleben dramatisch eine Herausforderung des authentischen Musizierens durch die Perfektion moderner Reproduktions- und Kommunikationstechniken. Franz Liszt musste zwar nicht auf Schallplatte, digitales Netz und „YouTube" reagieren. Aber er hat die Furchtlosigkeit gegenüber der Technik, ja ihre Produktivierung für die Musik vorgemacht: mit seiner Verwandlung der neuen „Musikmaschine" Klavier in ein singendes und klingendes Wunder hat er die Transzendenz-Fähigkeit der Technik in Kunst bewiesen.
Franz Liszt: Mit seiner Gestalt hat sich die Sachlichkeit der „Modern Times" lange schwer getan. Groß und widersprüchlich wie sein Jahrhundert war er und oszillierend seine Biographie. Sein sein virtuoses, oft rätselvolles Rollenspiel zwischen Musik und Gesellschaft hat viele verwirrt.
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann seine Wiederentdeckung. Seit dem Liszt-Jubiläum von 2011 steht er hell und klar am Horizont der europäischen Musikgeschichte, ein bunt strahlendes Mosaikbild. Dank sei der Wissenschaft und den Musikern, allen voran den Pianisten, die sich ihn zurückerobert haben. Ein Bild? Sagen wir es deutlicher: ein Vorbild!
Was ist die Liszt-Matrix?
Kunst als Stoff schöpferischen gesellschaftlichen Zusammenwirkens -Musik als grenzen- und Konventionen sprengendes Medium
Genie als Verpflichtung zu kultureller und sozialer Verantwortung.
Franz Liszt hat sehr viel Erfolg gehabt, er hat viel Geld verdient. In manchen Phasen seines Lebens war er eine Art Marke, ein Großbetrieb mit Großlogistik. Er war eine kulturelle Macht. Liszt hat diese Macht für das Wahre, Gute und Schöne eingesetzt. Er war solidarisch mit den Unglücklichen, mochten Naturkatastrophen oder politische Verfolgung ihr Leid bewirkt haben, und solidarisch mit den Künstlern in jenem Moment, wo sie Sympathie am Nötigsten haben – am Anfang ihrer Laufbahn. Er hat mit vollen Händen gegeben, voller Neugier und Vertrauen ins Junge, ins Neue und ins Un-Erhörte. Er war nicht nur als Künstler, sondern auch als Kulturpolitiker „Avantgarde" und wanderte mutig in die Zukunft, so nebelhaft ihre Konturen sein mochten. Er war ein Genie der Freundschaft.
Liszt taugt zum Vorbild einer Kultur in der modernen, offenen Demokratie. Unser ehrendes Gedenken an Franz Liszt macht nur dann wirklich Sinn übers liebevoll Antiquarische hinaus, wenn wir seine Botschaft ernst nehmen.
Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts. Kultur ist der Spiegel unseres Zusammenlebens, er darf nicht blind werden durch falsch verstandene Genügsamkeit. Liszt war über die Maßen großzügig- vom Kulturstaat fordern wir das gleiche. Franz Liszts Leben, seine Ideen, seine Kämpfe sind vielleicht am besten als ein Traum erklärbar. Es war der Traum von einer Humanität, deren beste Quellen Phantasie und Kunst sind. Der Traum ist heute, 2013, so aktuell wie damals.